„Das Recht auf Leben ist ein urchristlicher Wert.“ (Manfred Weber)
Wer geglaubt hat, dass sich die Abtreibungsbefürworter mit dem Gesetz von 2014, „eines der liberalsten Abtreibungsgesetzen Europas“ zufriedengeben würden, hat sich geirrt. Es gibt weltweit einflussreiche Kräfte, die unverhohlen den Schwangerschaftsabbruch während der ganzen neun Monate zulassen wollen, z.B. in den USA oder in Frankreich („en cas de détresse psycho-sociale“). Diese Forderung ist die knallharte und logische Folge des seit langem von den Medien gebetsmühlenartig wiederholten Begriffs vom „Recht auf Abtreibung“. Auch Christophe Hansen, Europaabgeordneter der CSV/EVP, macht sich nunmehr stark für die Selbstbestimmung der „Menschen mit einem Uterus“ (sic), ohne die geringste Maßnahme zum Schutz des ungeborenen Kindes und zum Recht der Frau, nicht abtreiben zu müssen, vorzuschlagen.
Hansen formuliert auf krasseste Weise, was die Abgeordnetenkammer, mit den Stimmen der CSV, bereits am 28. Juni 2022 als Reaktion auf die Entscheidung der Amerikanischen Supreme Court in einer Resolution festgehalten hat. Er befürchtet, dass „mit einem nationalen Regierungswechsel oder einer neuen Majorität im EU-Parlament Gesetze, „die das Recht auf Abtreibung, die freie Entscheidung über den eigenen Körper und die sexuelle Freiheit schützen“, gekippt werden könnten. Als Europaabgeordneter müsste Hansen eigentlich wissen, dass nicht die Union, sondern die Mitgliedsstaaten hier zuständig sind. Und wenn es anders wäre, ist es für einen Demokraten äußerst bedenklich, dem etwaigen Willen der europäischen Völker einen Riegel vorschieben zu wollen.
Damit sind wir am springenden Punkt: Tatsächlich gibt es die Grundrechte, die auch eine parlamentarische Mehrheit nicht kippen darf. Die Frage lautet also: gehört das Eliminieren ungeborenen Lebens zu einem dieser unveräußerlichen Menschenrechte? Um das klare Nein darauf zu verdeutlichen, muss zunächst hervorgehoben werden, dass Rechte dem Wohl des Menschen dienen. Bei der Abtreibung darf dies in zweifacher Hinsicht zumindest in Zweifel gezogen werden. Allein die Tatsache, dass viele Frauen oft sehr lange unter ihrer irreversiblen Entscheidung leiden, muss zum Nachdenken über dieses vermeintliche Recht anregen. Vor allem aber steht fest, dass es sich nicht bloß um den „eigenen Körper“ handelt, wie es Hansen behauptet, sondern auch um einen zweiten Körper, der sich zwar noch nicht selbst in Worten äußern kann, so doch Schutz genießt, wie es die Kinderrechtserklärung ausdrücklich festgeschrieben hat. Dieses absolut unschuldige und wehrlose menschliche Wesen hat ein Recht auf Leben, welches allen anderen Rechten zugrunde liegt. Inklusion sollte auch für die Kleinsten und die Schwächsten gelten.
Natürlich gibt es gescheite Köpfe, die dieses Recht in Frage stellen, oder die in materialistischer Tradition nichts mit dem Konzept der menschlichen Würde anfangen können, selbst wenn sie die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Embryologie nicht in Frage stellen. So kann sich der sehr einflussreiche Utilitarist Peter Singer durchaus vorstellen, dass ein unerwünschtes Kind auch noch Wochen nach der Geburt getötet werden kann, da das Bewusstsein noch nicht ausgebildet ist.
Von einem Christlich-Sozialen Politiker erwarten wir eine völlig andere, ja gegenteilige Gesinnung. Der Text von Christophe Hansen steht in eklatantem Widerspruch zur EVP-Linie. In seinem Brief vom 18. August 2021 u.a. an die Vie Naissante schreibt EVP-Präsident Manfred Weber, warum seine Fraktion gegen den Matic-Bericht, in den sich das „Recht auf Abtreibung“ und die Einschränkung der Gewissensfreiheit der Ärzte eingeschlichen hatten, gestimmt hat. Hier sein Wortlaut: „Ich stimme Ihrer Kritik an dem Bericht inhaltlich zu und habe diesen, wie auch ein überwältigender Großteil der EVP-Fraktion, bei der Abstimmung im Plenum abgelehnt (…). Rechtliche Auswirkungen hat der Bericht jedoch keine (…). Dennoch ist er ein Einschnitt und muss für uns alle ein Alarmsignal sein. Das Recht auf Leben ist ein urchristlicher Wert. Wir christdemokratischen und christsozialen Europaabgeordnete haben uns immer für den Schutz des ungeborenen Lebens eingesetzt. (…) Abtreibung ist für mich kein Menschenrecht und auch die Freiheit der Ärztinnen und Ärzte sowie des Pflegepersonals, bei ihrer Arbeit ihrem Gewissen zu folgen, darf nicht eingeschränkt werden. Die Gewissensfreiheit ist eine zentrale Säule unseres europäischen Werteverständnisses. (…)“. Damals haben Isabelle Wiseler und Christophe Hansen sich enthalten. Die CSV und ihr Vertreter in Straßburg haben sich offenbar vom christlich-sozialen Menschen- und Gesellschaftsbild verabschiedet.
Manfred Weber hat die Gefährdung der Gewissensfreiheit der Ärzte klar erkannt; ohne dieses Grundrecht würde auch der Hippokrates Eid ausgehöhlt. Selbst Luxemburgs Regierungsparteien haben diese Freiheit 2014 nicht angetastet.
Doch Hansens Forderung hätte noch andere Folgen. Schwangerschaftsabbrüche sollten durch Prävention und Hilfestellung vermieden und reduziert werden, so die Empfehlung des Europarats. Wenn Abtreibung aber ein Recht wäre, also immer etwas Wohltuendes, dann würden solche Maßnahmen unlogisch, ja überflüssig werden. Auch jede psycho-soziale Beratung und die Bedenkzeit verlören ihre Daseinsberechtigung. Wie weit diese Mentalität bei uns bereits vorangeschritten ist, zeigt das vor kurzem in Esch aufgeführte Theaterstück „Good Girls“, welches bewusst die Abtreibung banalisiert, und die Zügellosigkeit zelebriert. – Eine weitere Folge könnte ein Mangel an Frauenärzten sein. Je weiter die Frist einer legalen Abtreibung heraufgesetzt wird, desto traumatischer wird es für Ärzte und Pflegepersonal, dem vermeintlichen Recht auf Abtreibung pflichtgemäß Genüge zu leisten, wie das französische Syndikat der Gynäkologen 2020 monierte. Lebensschutzorganisationen wiederum werden verdächtigt, durch ihre Haltung dem „Recht auf Abtreibung“ im Wege zu stehen. Hansen verbirgt nicht seine Drohkulisse gegenüber „sogenannten Lebensschutzorganisationen“, und macht dabei keinen Unterschied zwischen den radikaleren und den gemäßigteren. Die heimtückischste Folge des heurigen Paradigmenwechsels aber wird es sein, dass eine Frau im Dilemma sich kaum noch gegen ihr Umfeld wehren kann, wenn beispielsweise der Partner erpresserisch das Recht auf Abtreibung geltend macht, um daraus eine Pflicht zu erzwingen.
Zum Schluss noch ein Wort zur plumpen Strategie der Abtreibungsbefürworter, denen Hansen kritiklos gefolgt ist. Populistisch polarisierend beruft auch er sich auf schlimme, ja inakzeptable Situationen in verschiedenen Ländern, um Empörung zu erzeugen, um somit in der Bevölkerung den Ruf nach einer totalen Liberalisierung zu erreichen. Über die wahren Ursachen und Beweggründe in den allermeisten Fällen bei uns schweigt er sich aus. „Abtreibungen wird es immer geben“, so Hansen. Mutatis mutandis wird es auch Hass, Diskriminierung, Diebstahl und Vergewaltigungen „immer geben“. Ist das ein Grund, sich damit abzufinden? – Ja, es gibt dramatische Situationen, wo es niemandem zusteht, über irgend jemanden den Stab zu brechen. Die Vie Naissante möchte alles daransetzen, Frauen eine derart schwerwiegende Entscheidung zu ersparen, und ihnen das Ja zum Leben zu ermöglichen.
André Grosbusch Marie-Josée Frank
Präsident der Vie Naissante Vizepräsidentin
Dies ist eine Antwort auf den Artikel von Christophe Hansen „Jeder soll über seinen eigenen Körper bestimmen dürfen“ (LW. 12. November 2022, S. 11)